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Lebensweltliche Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache

Mehrsprachigkeit ist ein Merkmal moderner Gesellschaften, welches immer mehr Menschen betrifft und berührt. Es lassen sich drei verschiedene Formen unterscheiden: innersprachliche, fremdsprachliche und lebensweltliche Mehrsprachigkeit (vgl. de Cillia, 2010a, S. 5 ff.). Die innersprachliche Mehrsprachigkeit beschreibt die Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Varietäten innerhalb einer einzigen Sprache, etwa Dialekte, Soziolekte oder Fachsprachen. Fremdsprachliche Mehrsprachigkeit hingegen bezieht sich auf den Erwerb und Gebrauch von zusätzlichen Sprachen neben der Erstsprache oder den Erstsprachen, die meist im Rahmen formaler Bildungsprozesse vermittelt werden und sich von den offiziellen Amts- oder Umgebungssprachen unterscheiden. Die Vermittlung erfolgt schwerpunktmäßig im schulischen Fremdsprachenunterricht.

Der Begriff lebensweltliche Mehrsprachigkeit beschreibt schließlich die regelmäßige Nutzung von mindestens zwei verschiedenen Sprachen im persönlichen Alltag (vgl. Gogolin 2010, S. 544) und verweist damit auf die lebensweltliche Bedeutung von Sprache. Das Niveau, auf dem die verwendeten Sprachen beherrscht werden, ist dabei nicht ausschlaggebend. Im schulischen Kontext lassen sich zwei wesentliche Formen der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit unterscheiden:

Zum einen die Nutzung autochthoner Minderheitensprachen, wie bspw. Sorbisch, zum anderen die Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern aus Familien mit Migrationserfahrung (vgl. de Cillia, 2010b, S. 248f.). Dabei ist anzumerken, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen mit Migrationserfahrungen mehrsprachig aufwachsen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Überschneidungsmenge, insbesondere in der Primarstufe, relativ groß ist (vgl. Herzog-Punzenberger & Schnell, 2012, S. 237). In Sachsen wurde vor diesem Hintergrund für diese Personengruppe, der Begriff „Schülerinnen und Schüler, deren Herkunftssprache nicht oder nicht ausschließlich Deutsch ist“ gewählt.

Viele der lebensweltlich mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler sind Deutsch als Zweitsprache-Lernende. Beim Erlernen des Deutschen als Zweitsprache im schulischen Kontext handelt es sich um die Aneignung einer (neuen) Sprache in der zielsprachlichen Umgebung. Deutsch als Zweitsprache wird in sozialer Interaktion in der zielsprachlichen Umgebung ungesteuert und im Unterrichtsfach Deutsch als Zweitsprache gesteuert erworben.

Das Wissen um die Einflüsse auf den Erwerb einer Zweitsprache und die Nutzung des gesamten Sprachenrepertoires ist bedeutsam, wenn es um die Beurteilung der sprachlichen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen sowie die Gestaltung von Unterricht und Förderung geht. Die verschiedenen Einflussfaktoren bestimmen maßgeblich, wie erfolgreich eine Person eine neue Sprache erlernt. Dabei ist zu beachten, dass mehrere Einflussfaktoren gleichzeitig wirken und in wechselseitigen Beziehungen stehen. Jeuk (2015) benennt drei Faktoren:

Zusammenspiel von Gelegenheit, Motivation und Fähigkeit
Abbildung 1: Einflussfaktoren auf den Zweitspracherwerb (angelehnt an Jeuk 2015, S. 38) 

Gelegenheit

bspw. Qualität des sprachlichen Inputs, Kommunikation mit Sprachvorbildern, Sprachkontaktdauer und Quantität des Inputs, Relevanz sprachlicher Mittel

Motivation

bspw. Interesse, Leistungsbereitschaft und unmittelbare Lernmotivation, persönliche Wünsche, emotionale Beziehung zu Sprechenden der Zielsprache, positive oder negative Lernerfahrungen, Akzeptanz und Einstellung der Lehrkraft gegenüber Mehrsprachigkeit und hybrider Zugehörigkeit

Fähigkeit

bspw. Begabung (kognitive Grundfähigkeiten, sprachanalytische Fähigkeit), Sprachlernerfahrungen, Transfer des Wissens aus der Erstsprache für Erwerb der Zweitsprache, Persönlichkeit (impulsiv, extrovertiert, redefreudig, reflexiv), Alter beim Sprachkontakt

Aus der Vielzahl der o. g. Einflussfaktoren wird ersichtlich, dass der Spracherwerb individuell sehr unterschiedlich verlaufen kann. Da biologische, kognitive sowie soziale und emotionale Einflüsse auf komplexe Weise zusammenwirken, ist es kaum möglich, typische oder standardisierte Verläufe des Spracherwerbs zu beschreiben.

Neurolinguistische Forschungsergebnisse zeigen, dass der frühe und gleichzeitige Erwerb von mehreren Sprachen einen positiven Einfluss auf die generelle Sprachkompetenz haben kann und für das menschliche Gehirn keine Herausforderung, sondern vielmehr einen Normalzustand darstellt. Eine hinreichende Unterstützung und Wertschätzung von Mehrsprachigkeit kann sich zudem positiv auf das Arbeitsgedächtnis, Problemlösekompetenzen und die kognitive Flexibilität auswirken (vgl. Riehl 2014).

Mehrsprachige Schülerinnen und Schüler greifen in ihren alltäglichen Konversationen auf ein Sprachenrepertoire zurück, wobei es zum Wechsel zwischen unterschiedlichen Sprachen und Varietäten (Dialekte, Soziolekte, Stil) kommt. Entsprechend der kommunikativen Anforderungen der jeweiligen Situation und der eigenen Bedürfnisse können Kinder und Jugendliche ein-, aber auch mehr- und quersprachig handeln (vgl. Montanari & Panagiotopoulou 2019, S. 39).

Mehrsprachiges Aufwachsen beeinflusst die gesamte Sprachentwicklung ebenso wie die Identitätsbildung. Im Interesse der individuellen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler kommt es in der pädagogischen und unterrichtlichen Arbeit darauf an, Kompetenzen im Umgang mit dem eigenen Sprachenrepertoire wertzuschätzen und zu fördern sowie die Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler zu zwei oder mehreren kulturellen Räumen zu akzeptieren.

Mehrsprachig Lernende bringen unterschiedliche Profile sprachlicher Kompetenzen sowohl in ihren Herkunftssprachen als auch in der deutschen Sprache mit, die Produkt ihrer lebensweltlichen Mehrsprachigkeit sind. Ebenso unterschiedlich gestalten sich die Einstellungen zu den gesprochenen Sprachen, zum Sprachenlernen und zur gelebten Mehrsprachigkeit. Mehrsprachig aufwachsende Kinder und Jugendliche besitzen durch ihre Sprachenbiografie ein besonderes Bildungspotenzial und sind durch unterschiedliche Lebens- und Kulturerfahrungen geprägt. Bei der Entwicklung der Persönlichkeit kommt dem Ausbau der vorhandenen Mehrsprachigkeit eine zentrale Rolle zu. Diese gilt es als Ressource mit individueller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedeutung zu verstehen und zu fördern.

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