Hinweise zu den Förderschwerpunkten
Sonderpädagogische Beratung, Diagnostik und Förderung lebensweltlich mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler
Die sonderpädagogische Beratung, Diagnostik und Förderung bei lebensweltlich mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen erfordert einen besonders sensiblen, ganzheitlichen und fachlich fundierten Ansatz, der die spezifischen Herausforderungen individueller sprachlicher Hintergründe berücksichtigt.
Niehaus (2024, S. 84ff.) verweist in diesem Kontext insbesondere auf die Gefahr der „Sonderpädagogisierung“ migrationsbedingt mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler, da befürchtet wird, dass Kindern und Jugendlichen allein aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben wird (vgl. hierzu auch Jeuk 2015, S. 231). Die Gründe dafür sind vielseitig: Häufig fühlen sich Lehrkräfte nicht ausreichend für die Sprachbildung von lebensweltlich mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen qualifiziert. Hinzu kommen weitere Herausforderungen, wie lange Unterbrechungen des Schulbesuchs oder aufgrund von Flucht und Kriegserfahrungen verursachte Traumatisierungen, die dazu führen können, dass diese Kinder und Jugendlichen anders als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler lernen. Parallel sind nicht alle Diagnostiklehrkräfte fachlich qualifiziert, um mehrsprachige Entwicklungsprozesse im Kontext der Beratung und Diagnostik umfänglich zu berücksichtigen (vgl. Jeuk 2015, S. 231). Zudem besteht noch immer ein erheblicher Mangel an geeigneten diagnostischen Verfahren, die auf Mehrsprachigkeit eingestellt sind.
Umso wichtiger ist eine „multiprofessionelle Zusammenarbeit zwischen den einzelnen pädagogischen Fachkräften“ (ebd., S. 90) sowie ggf. die Hinzuziehung weiterer Fachexpertisen, bspw. der Schulpsychologie oder herkunftssprachliche Lehrkräfte, um mögliche Abweichungen von altersbedingten Normerwartungen und schulischen Lernprozessen richtig einschätzen zu können.
Die Forschung zu Mehrsprachigkeit hat im Laufe der Jahrzehnte unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Es liegt bereits ein fundiertes Wissen vor, wie Kinder und Jugendliche mehrere Sprachen erwerben und verwenden. Die Rolle von Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten wie Kita oder Schule ist erst seit Kurzem im Fokus der Wissenschaft, wodurch dieser Wissensstand dynamischen Entwicklungen unterliegt.
Folgende Prämissen sind unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes insbesondere im Kontext der sonderpädagogischen Beratung, Diagnostik und Förderung lebensweltlich mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen:
- Um dem eingangs genannten Ziel des Freistaates Sachsen näher zu kommen, für jede Schülerin und jeden Schüler den höchstmöglichen Schulabschluss zu ermöglichen und dabei die ganz individuellen Potenziale jedes Einzelnen zu berücksichtigen, ist es zentral, Lehrkräfte weiter für die mehrsprachigen Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler zu sensibilisieren und ihren diagnostisch-reflexiven Blick zu schärfen. Dies trägt zu einer sprachbewussten Bildungspraxis bei und macht die Grenzen diagnostischer Verfahren sowie auch die weitreichenden Konsequenzen von Kompetenzzuschreibungen für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler deutlich (vgl. Corvacho del Toro, David-Erb & Hack-Cengizalp 2023, S. 8.)
- Insbesondere die mehrsprachige Entwicklung, v. a. im Kontext von Migration, zeigt die Notwendigkeit einer lebensweltorientierten Betrachtungsweise und den Einfluss äußerer und innerer Faktoren auf die Entwicklungsverläufe als Bedingungsfaktoren mitzudenken (vgl. Büker, Haag, Walczuch 2002, S. 83).
- Eine reflexive Diagnostik berücksichtigt die Tatsache, dass aus „spracherwerbstheoretischer Sicht aufgrund der hohen Komplexität keinerlei Standardverläufe angenommen werden können, sondern dass die Individualität der Entwicklungsverläufe im Vordergrund steht“ (Wildemann, Döll & Brizić 2023, S. 42). Es ist damit zu rechnen, dass das soziale und kognitive Entwicklungsniveau der Kinder und Jugendlichen und ihr Sprachgebrauch (produktiv wie rezeptiv) in der Zweitsprache Deutsch mehr oder minder weit auseinanderfallen.
- Die sprachliche Handlungsfähigkeit mehrsprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher kann im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern im diagnostischen Prozess durch die reduzierten sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen beeinträchtigt sein. Allein am Alter orientierte Normen sind daher nicht angemessen, sollten reflektiert bzw. durch alternative Vorgehensweisen ergänzt oder ersetzt werden, bspw. durch beschreibende Darstellungen der multifaktoriellen Realität (vgl. ebd.).
In den nachfolgenden Abschnitten werden diese Prämissen förderschwerpunktspezifisch untersetzt.
- Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt Sprache Beratung, Diagnostik und Förderung
- Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt Lernen Beratung, Diagnostik und Förderung
- Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung Beratung, Diagnostik und Förderung
- Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung Beratung, Diagnostik und Förderung
- Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Beratung, Diagnostik und Förderung
- Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt Hören Beratung, Diagnostik und Förderung
- Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt Sehen Beratung, Diagnostik und Förderung